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Wie Lügner die Wahrheit sagen
Nico Declercq
Apr 8, 2019
Nico Declercq ist ein Kriminalermittler mit Erfahrung in der Befragung von Personen. Für ihn als Experte für Körpersprache und Lügendetektion kommt es bei der Ermittlung letztendlich nicht darauf an, Lügen aufzudecken, sondern die Wahrheit herauszufinden.
Als Kriminalermittler führe ich Ermittlungen durch, die häufig extreme und emotionale Ereignisse betreffen. Zum Beispiel geht es um ein Feuer, bei dem ein Haus niedergebrannt ist, einen schlimmen Arbeitsunfall oder millionenschwere Verluste. In all diesen Fällen gehe ich zum Ort des Geschehens und rede mit den beteiligten Personen. Das mache ich nicht übers Telefon oder per E-Mail. Ich muss den Menschen gegenüberstehen, wenn ich ihnen Fragen stelle. Wie Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert feststellte, lügt der Mensch mit seinem Mund, seine Mimik spricht jedoch die Wahrheit. Es gibt drei verschiedene Arten von Hinweisen, die mir dabei helfen, eine wahre Geschichte von einer Lüge zu unterscheiden:
Nonverbale Hinweise
Paraverbale Hinweise
Verbale Hinweise
Bei nonverbalen Hinweisen geht es um Körpersprache und Mimik. Die Art, wie Leute sprechen, bezeichnet man als paraverbale Kommunikation. Die verbalen Hinweise sind in den Worten versteckt, in der tatsächlichen Geschichte, die mir die Leute erzählen. Meine Aufgabe als Ermittler besteht darin, alles zu beobachten und genau zuzuhören, um die Wahrheit herauszufinden.
Wie unser Körper uns verrät
Ein Lügner kann sich eine Geschichte ausdenken und versuchen, mich mit verbaler Sprache zu täuschen. Aber Körpersprache folgt ihren eigenen Gesetzen. Es gibt einige verräterische Anzeichen dafür, dass eine Person möglicherweise lügt – oder aber die Wahrheit sagt. Es funktioniert nicht so, wie es häufig in Fernsehserien wie Lie To Me dargestellt wird, wo ein Experte sich das Video einer Befragung ansieht und sagt: "Stopp, anhalten, er lügt."
Meine Herangehensweise an eine Befragung beinhaltet folgende Schritte: Abgleichen, Beobachten, Nachforschen. Während der Abgleichphase stelle ich der befragten Person einige Fragen, deren Antwort ich bereits kenne, zum Beispiel nach ihrem Namen. Auf diese Weise lerne ich ihre normale Mimik und Körpersprache sowie ihr normales Sprachmuster kennen. Es gibt einige nonverbale Kriterien wie Mikromimik (flüchtige Gesichtsausdrücke, die nur Sekundenbruchteile dauern), Veränderungen im Blickkontakt sowie Augenbewegungen.
Wenn man beispielsweise jemanden fragt, wie viele Türen es in dessen Haus gibt, wird man häufig beobachten, dass die Person nach rechts oben schaut. Sie tut dies nicht, weil sie erwartet, dass die Antwort auf magische Weise an der Decke erscheint, sondern weil sich das Erinnerungsgedächtnis auf der rechten Gehirnseite befindet. Das bedeutet nicht, dass du nach Hause gehen und deine Frau beziehungsweise deinen Mann fragen kannst: "Hast du mich jemals betrogen?", und dann erkennst, dass er/sie lügt, je nachdem, in welche Richtung er/sie schaut. Dies ist lediglich ein kleines Anzeichen dafür, dass hier eine Täuschung vorliegen könnte. Ich achte auf nonverbale Kriterien und wenn ich etwas beobachte, das darauf hindeutet, dass die Person möglicherweise lügt, dann fange ich an, viele Fragen zu stellen.
Wie unsere Sprache uns verrät
Neben der nonverbalen Kommunikation ist es wichtig, auf paraverbale Hinweise zu achten, die die Leute versehentlich preisgeben, wenn sie eine Geschichte erfinden. Lügner geben viel kürzere Antworten und verraten keine Details. Außerdem machen sie längere Pausen zwischen Wörtern und Sätzen. Manchmal versuchen Lügner, diese Pausen zu füllen, indem sie beispielsweise die Frage wiederholen, die ihnen gestellt wurde. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich jemand eine Geschichte nur ausdenkt, ist, dass er oder sie plötzlich viel mehr stammelt. All diese Hinweise sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass Lügner im Vergleich zu einer Person, die die Wahrheit sagt, nur eine sehr einfache Version einer Geschichte auf Lager haben.
Wie unsere Worte uns verraten
Der Unterschied zwischen jemandem, der die Wahrheit sagt, und jemandem, der eine Lüge erzählt, ähnelt dem Unterschied zwischen einem Baum und einem Besenstiel. Ein Baum ist ein komplexer Organismus mit Ästen, Blättern, Blüten und Früchten, die an ihm wachsen. Dieser Grad der Komplexität zeichnet auch eine wahre Geschichte aus: Sie ist voller Emotionen, Interaktionen, Sinnesbeobachtungen, unerwarteten Ereignissen. Genau wie ein Baum besteht eine wahre Geschichte aus vielen Details, während ein Besenstiel nur ein gerades Stück Holz ist. Er ist keine vollständige Geschichte.
Wenn dein Mann oder deine Frau heute Abend beispielsweise sagt: "Ich bin mit jemandem irgendwo was trinken gegangen", dann möchtest du möglicherweise anfangen, Fragen zu stellen. Ein Mangel an Einzelheiten könnte bedeuten, dass es hier nur einen Besenstiel gibt, keinen Baum.
Ein wesentlicher Grundsatz während einer Befragung besteht jedoch darin, der befragten Person vollkommen zu vertrauen. Es geht nicht darum, nach der Lüge zu suchen, sondern nach der Wahrheit. Wenn dir auffällt, dass Einzelheiten fehlen, solltest du Fragen stellen. Lerne, darauf zu hören, was nicht gesagt wurde, um herauszufinden, was tatsächlich gesagt wurde.
Die Besenstiel-Geschichte des Gärtners
Ein Beispiel für eine Geschichte ohne Einzelheiten stammt aus einer Ermittlung, die ich vor ein paar Jahren durchgeführt habe. Damals meldete ein Gärtner seine Frau bei der Polizei als vermisst. Es war ein schöner Sommertag im Juni, der Gärtner hatte sich um vier Uhr nachmittags für circa eine halbe Stunde hingelegt und danach festgestellt, dass seine Frau verschwunden war. Der Gärtner erschien jedoch erst um zehn Uhr abends auf der Polizeiwache. Bei der Befragung stellte ich ihm folgende Frage: "Was haben Sie zwischen vier Uhr und jetzt getan?" Er antwortete, dass er nichts getan hatte. Er hatte sich keine Einzelheiten für seine Geschichte zurechtgelegt. Der Gärtner hatte nur einen Besenstiel als seine Geschichte vorzuweisen und das hat ihn verraten: Wir fanden heraus, dass er seine Frau in Wahrheit ermordet hatte.
Die Wahrheit erkennen
Jeder Dummkopf kann die Wahrheit sagen. Man muss jedoch sehr gewieft sein, um eine überzeugende Lüge zu erzählen und einem Ermittler weiszumachen, dass ein Besenstiel ein Baum ist. Versetze dich in die Person hinein und vertraue ihr vollkommen, anstatt davon auszugehen, dass sie lügt. Diese fünf Dinge muss ein Ermittler im Hinterkopf behalten:
Geh zum Ort des Geschehens
Rede nicht, hör nur zu
Stelle keine Mutmaßungen an
Konzentriere dich auf die Körpersprache
Suche nach der Wahrheit
Bei einer Ermittlung geht es nicht um die Aufdeckung einer Lüge, sondern darum, die Wahrheit herauszufinden.